.
.
Nachruf auf Agnieszka Jurek – März 1971 – November 2024
Als im Kino im Sprengel im September 2024 eine kleine Werkschau mit Filmen von Agnieszka und ihrem Mann Carsten Aschmann stattfand, war mir und den meisten anderen Anwesenden wohl nicht klar, dass dies die letzte persönliche Begegnung mit Agnieszka sein würde.
Das Kino war gut gefüllt, viele alte Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter waren anwesend. Einige wussten da bereits von ihrem kritischen Gesundheitszustand. Obwohl sie durch ihre langjährige Krankheit und von einer gerade durchgemachten Chemotherapie geschwächt war, stand Agnieszka nach der Vorführung tapfer Rede und Antwort. Die positive Resonanz, die sie auf ihre Filme erhielt, gab ihr sichtlich Auftrieb.
Auslöser für diesen Filmabend war, dass Agnieszka im Mai 2024 für ihren essayistischen Kurzfilm Vermessung der Tristesse den Großen Preis im Deutschen Wettbewerb der 70. Kurzfilmtage Oberhausen gewonnen hatte. Für den Film war es die erste öffentliche Aufführung in ihrer (zweiten) Heimatstadt Hannover. In ihm verarbeitete Agnieszka die Erfahrungen, die sie als Krebspatientin machen musste. Thematisiert wird die Angst, die Ungewissheit, das Ausgeliefertsein an die Medizintechnik. Komplementär dazu: Momente von Schönheit, Glück, Hoffnung. Ein Film, der dem Leiden abgerungen wurde; die eigenen Aufnahmen und Aufzeichnungen dabei klug verschachtelt, mit Found Footage, Stimmen, Klängen und Musik, all das verdichtet zu einer Ode an das Leben.
Agnieszka hatte in Polen die Kunstschule besucht und anschließend in Poznan Bildhauerei studiert. 1994 kam sie als Au-pair nach Deutschland. Ab 1997 studierte sie in der Filmklasse von Uwe Schrader an der FH Hannover. Ihr dortiger Abschlussfilm Does That Hurt You(2003) basierte auf einem Interview mit David Lynch und war in einer ungewöhnlichen, dem Lynch’schen Kosmos durchaus verwandten, Form montiert.
Bereits an diesem Film waren Tochter Cora und Ehemann Carsten maßgeblich beteiligt, sei es vor, sei es hinter der Kamera. Das sollte auch in Zukunft so bleiben – was liegt näher bei so viel künstlerischem Potenzial in der eigenen Familie. Mit meist knappen Budgets realisierte Agnieszka über zwei Jahrzehnte hinweg beharrlich ihre Filmprojekte – vom Experimentalfilm über kurze Trickfilme bis hin zum langen Dokumentarfilm (Mein Vater Der Wald, 2011).
Cora und ihre 14 Jahre jüngere Schwester Fanny lieferten die Inspirationen zu Agnieszkas Arbeiten für Kinder, die sowohl in kleinformatigen Bilderbüchern als auch in charmanten kurzen Animationsfilmen ihren Ausdruck fanden. Ihr kürzester Film Herr Böseguck und die Beule sei ihr erfolgreichster gewesen, zumindest an der Zahl der weltweiten Aufführungen gemessen, bemerkte sie mit dem ihr eigenen Humor.
In den letzten fünf Jahren schrieb sie, mit Förderungen der Nordmedia, drei Drehbücher für Langfilme. Die Mittel des NDR waren schon zugesichert, als das erste, mit dem Titel Fahrplan (2018/19), für das Format „Nordlichter“ umgesetzt werden sollte; die Nordmedia war auch im Boot. Doch das Projekt scheiterte am Veto des Intendanten der Hamburger Filmförderung MOIN. Das Thema „Ehemalige RAF-Terroristin verhindert einen islamistischen Anschlag“ rührte zu sehr an Tabus. Klassenkonferenz (2019/20), über Mobbing in der Schule, gelangte auf die Shortlist für den Emder Drehbuchpreis 2021. Der Keiler von Knutbüren (2022), eine Heimatfilm-Parodie im Prime Time Format, blieb ihr letztes. Nun wird sich ihr Mann um die weitere Auswertung der Werke kümmern. Auch ein bereits begonnener Animationsfilm, eine neue Episode mit ihrer Figur Mademoiselle Noudelle, soll von ihrer Familie gemeinsam vollendet werden.
Welch ein kräftezehrender Akt es ist, wenn man sich stets von Projekt zu Projekt hangelt und nebenher noch eine Familie (mit)ernähren muss – davon können alle, die hierzulande Kunst machen, ein Lied singen. Dennoch fand Agnieszka Zeit, das Land Niedersachsen fünf Jahre lang als Jurymitglied der FBW in Wiesbaden zu vertreten. Eine Arbeit, die sie nicht nur sehr ernst nahm, sondern deren Schwachstellen sie auch erkannte, um daraus Vorschläge für Strukturreformen zu entwickeln. Auch ihr Engagement als Schöffin am Landgericht war für sie mehr als eine lästige Pflicht. Hier bekam sie Einblicke in Lebenswirklichkeiten, die geeignet waren, ihren Stoffen noch mehr Realismus zu verleihen. Beide Ämter musste sie 2022 krankheitsbedingt aufgeben.
Ein Stipendium der Roger Willemsen Stiftung im Jahr 2023 gab ihr noch einmal die Gelegenheit, kreativ und auch gesundheitlich durchzuatmen und den Grundstein für Vermessung der Tristesse zu legen.
Am 25. November 2024 hat Agnieszka ihre letzte Reise angetreten. Alleine in einem winzigen Boot, das Segel auf Zuversicht gesetzt – so hat sie ihren Abschied zeichnerisch projiziert. Wir werden sie vermissen, als Mensch wie als Künstlerin. In Erinnerung bleibt mir ihr von Herzen kommendes Lachen, eine ansteckende Heiterkeit, die auf ihrem Sinn für absurde Situationen beruhte. Der größten Absurdität, dem Tod, konnte sie jedoch nicht entkommen.
Volker Siebel, Kino im Sprengel, Hannover
.
P.S. Nachtrag: Gestern verstarb David Lynch. Sowohl für Agnieszka als auch für mich, war er ein wichtiger Einfluss, „Under the Influence / Offshore-Kino 3 Text: April 2021“. Aus diesem Grund habe ich die Arbeit „Does That Hurt You?“, weiter oben, barrierefrei verlinkt.
©2018 Animation | Agnieszka Jurek – ©2024 Foto: Carsten Aschmann | VG Bild-Kunst