12/04/2021

Under the Influence / Offshore-Kino 3 – David Lynch

1986 – 116 min. BLUE VELVET – David Lynch

Abbildung oben: David Lynch-Büste Plastik von Agnieszka Jurek

21 Jahre war ich alt, als ich Blue Velvet im Kino sah. Ich hatte schon viel bis dahin gesehen. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher in meinem Kinderzimmer wurde ich mit Fassbinder-Filmen groß, die ich zwar nicht verstand, aber wahrhaftig wirkten und mich am Verstand der Erwachsenen zweifeln ließ. Mit 14 schlich ich mich in die Kinos, um Filme wie Muttertag oder Ein Zombie hing am Glockenseil zu gucken. Sowas vergisst man sein Leben nicht. Der Fernsehabend mit den Eltern wurde parallel mit Kojak, Dallas, Derrick, die große Flatter und Disco bestritten. Serien dominierten schon in den 70er und 80er das Leben der Familien. Die Serien hatten den Alltag, die Wochen und sogar Jahre strukturiert. Diese Sozialfunktion haben sie heute verloren. „Dienstag ist (war) Schwienstag“, das weiß ich noch immer!


Horror und Alltag – 70er bis 80er – Erinnerungen


Nach den Mutproben mit Horrorfilmen purzelten B-Movie und A-Movie bei mir durcheinander, von Klapperschlange und Apocalypse Now über Klasse von 1984 und Brazil bis Blade Runner und die 120 Tage von Sodom, war alles dabei. Eine ganze andere, aber auch tiefgreifende Geschichte verbindet mich mit Star Wars seit 1977. Sie umfasst mittlerweile meine Kindheit plus die Kindheit meiner Kinder, die nun ihrerseits damit alt werden. Eine unendliche Geschichte. Ebenso purzeln TV und Kino durcheinander. Was habe ich eigentlich wo gesehen? Der einzige Versuch mal etwas Buchhaltung zu betreiben, betraf meine Plattenkäufe. Doch selbst das war mir irgendwann zu nervig. Heute würde ich einiges dafür geben, diese Liste nochmal zu sehen; eine Auskunft darüber haben wollen, wie sehr uns doch unsere Erinnerungen betrügen könnten. Wo und wann verdammt nochmal habe ich Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof gesehen? Wenn ich an die Discothek „Sound“ im Film denke, dann bin ich automatisch in unserer „Rotation“ in Hannover, gefüllt mit uns Kindern, die alle schon keinen Bock mehr auf Schule hatten. Soviel ist klar. Verbindung hergestellt und „David Bowie“ durch „The Cure“ ersetzt. Das war eine Zeit, wo man sich definitiv für oder gegen Drogen entscheiden konnte.

1986 wusste ich dann, was ich wollte!


Erst mit Blue Velvet begann ich mich aber wirklich für Regisseure zu interessieren. Anders lässt es sich nicht erklären, warum ich lange Zeit vergaß, dass nicht Blue Velvet mein erster Lynch-Film war, sondern der Elefantenmensch. Auch Jahre später legt Blue Velvet meine persönlichen Erfahrungen spürbar frei, die allesamt dort getriggert wurden sind. Ich sah einen amerikanischen Film, der so ganz anders aussah als meine deutsche Wirklichkeit und doch! Alles war da, was mich grundsätzlich sowohl negativ und positiv interessierte am Leben – in Bildern denken (ich fotografierte schon weit vor meiner Konfirmation und jetzt kam Bewegung ins Bild – ein Schub ähnlich dem Start eines Flugzeuges), sich trauen Geschichten zu erzählen (die ich mir selbst aus Scham bis dahin verboten hatte) mit einem unverhohlenen Voyeurismus gepaart. „Und jetzt zeig’s mir“, befiehlt Frank der Sängerin Dorothy. Ich war Voyeur, der Film führte es mir vor, er spiegelte es. Ich war Frank, Jeffrey und auch ich selbst gleichzeitig. Ohne Voyeurismus kein Fenster in eine andere Welt. Aber mittendrin statt nur dabei, das wollte ich nie, schon gar nicht, wenn es ödipale Dramen waren. Und dann war da noch die Musik, die mich zurück in eine Zeit katapultierte, die zu meinem Vater gehörte und gegen den ich oft rebellierte. Jetzt konnte ich diese Musik endlich wieder lieben und musste sie nicht mehr hassen. Es dauerte auch, bis ich endlich begriff, was mein Vater mit der teuren Stereoanlage, bzw. den 24-Band-Equalizer jahrelang praktizierte. Er stellte ihn immer so ein, dass die High-End-Anlage, wie Mittelwelle auf einem alten Transistorradio klang. Er wollte damit Erinnerungen und Kindheit zurückholen. Nie sprach er darüber, ich kann ihn nicht mehr fragen, aber ich bin mir relativ sicher.

Und unberechenbare und gewalttätige Menschen wie „Frank Booth“ kamen aus meiner Kindheitserinnerung wieder hoch und wie oft wünschte ich mir genau diese Typen dann einfach „weg!“ – mit einem finalen Schuss in den Kopf, wie in Blue Velvet, weil sie meinen Zugang zur Schönheit der Welt und des Genusses störten. Sie tobten ihre Komplexe aus und die Angst der Opfer war ihre Nahrung, so wie Vampire frisches Blut brauchen. Hauptsache sie hatten die Opfer in ihre kaputte Welt hineingezogen. Jetzt hatte ich durch Blue Velvet einen konstruktiven Zugang zum Kaputten gefunden, der immer schon Teil des Ganzen war. Die Kritiker sprachen häufig von der ironischen Brechung in Blue Velvet. Das sehe ich anders, der Film ist eine einzige Umarmung. Wer die Welt liebt, hat den Kitsch überwunden.

Finderlohn für ein abgeschnittenes Ohr


Auch wenn die Filmkritik Blue Velvet historisch übergehen sollte, es würde sich für mich nichts ändern. Der Film war und ist eine Offenbarung. Erhaben, brutal, peinlich, nackt und humorvoll. „Du hast ein menschliches Ohr gefunden?“, fragt der Kriminalbeamte, guckt in die Tüte und guckt wieder zu Jeffrey hoch und antwortet sich selbst: „Ja, das ist ein menschliches Ohr.“ Film war für mich das Medium, in dem alles zusammen kam. Denken, Fühlen, Bild, Text, Musik, Geräusch, Raum und Zeit durch Schnitt. Allein die ersten drei Minuten zogen mich in den Bann. Das Blau des Himmels, das Weiß des Gartenzauns, das Rot der Rosen und der mikroskopische Einstieg in das intensive grün strahlige Spektrum der Grashalme, bis Insekten das Bild Schwarz füllen – im feinsten Technicolor. Jeffrey hat für das abgeschnittene Ohr den größten Finderlohn erhalten, eine intensive Erfahrung, auch die einer Tötung aus Notwehr, also straffrei. Juristisch ist es natürlich komplizierter. Von da an, war mir klar, ich wollte Film machen. Ich ging an die Filmklasse in Braunschweig und studierte dort Kunst. Lynch hatte auch Kunst studiert, bevor er mit Film begann. Kunst & Leben. So sollte es kommen. „Give the People What They Want“ war mir als Slogan von jeher zu schlicht. Samuel Goldwyn sagte einst, „das Publikum weiß erst dann, was es will, wenn es das, was es will, zu sehen bekommt.“ Das ist viel feiner begriffen. Genau das passierte mir mit Blue Velvet und so konvertierte ich vom reinen Kinobesucher zu einem Filmemacher. Übrigens gab es viele bis völlig unnötige Interpretationen zu Blue Velvet, die aus jeder Farbe einen psychogenen Komplex bauten, selbst der Filmkritiker „Georg Seeßlen“ ließ sich davon anstecken. @seeßlen: Ein blauer Himmel, ein weißer Zaun und rote Rosen sind nicht nur in den USA zu finden, sondern auch in Ländern, deren Flagge andere Grundfarben haben. Da gab es viel zu viel Schabernack. In der Hinsicht hatte ich meine Ohren auf Durchzug gestellt und tu es immer noch. Und es war klar, dass ich Blue Velvet erst viel später wiedersehen wollte, um ihn nicht abzunutzen.

17J. – 25J. – 30J. – 35J. – Gut Ding will Weile haben!


2002 realisierte Agnieszka Jurek mit Does That Hurt you? eine kurze Dokumentation über Lynchs Dumbland-Serie, an der ich in verschiedenen Funktionen mitwirkte. 2003 gab es in Lodz die Möglichkeit David Lynch persönlich zu treffen. Jetzt stand ich ihm leibhaftig gegenüber. 17 Jahre später. Aber unsere Themen waren gänzlich andere als Blue Velvet. Es ging ums Tabakdrehen, Säfte, Weihnachtsschmuck, Höhenangst, Diebstahl und Set-Ups und einiges mehr. Als ich ihm die Hand zur Begrüßung gedrückt hatte, lag darin schon mein ganzes geräuschloses und telepathisches „Dankeschön“. Über die 90er Jahre habe ich auch den tollen Filmemacher Peter Braatz kennengelernt, der 1986 das große Glück hatte, die Dreharbeiten zu Blue Velvet dokumentieren zu dürfen. Daraus hat Braatz 1988 den wunderbaren Film gemacht, der No Frank in Lumberton hieß. Jetzt gibt es mit Blue Velvet Revisited eine überzeugende Neuüberarbeitung des gedrehten Materials. 30 Jahre später! Erhältlich auf einer Sonder-Edition von Criterion, zusammen mit dem Hauptwerk Blue Velvet. Das ist ein Paket, dass ihr euch nicht entgehen lassen solltet. Übrigens: Lynch ließ sich 25 Jahre Zeit, um nach Twin Peaks zurückzukehren. Alles braucht seine Zeit, so wie diese Hommage ihre Zeit brauchte.

©2021 Text & Bildrechte | Carsten Aschmann, VG Bild-Kunst

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