27/06/2023

„Die Welt ist nicht schön, schön ist sie nur, wenn wir träumen.“

Retrospektion: Sonnenland Nr. 62 – Videotagebuch VI

„Die Welt ist nicht schön, schön ist sie nur, wenn wir träumen.“ Mit dieser Zeile aus dem Lied „Es ist nie zu spät“, von Gilbert Bécaud aus dem Jahr 1966, begann ich den Schnitt oder um es exakter auszudrücken, die Montage in der Timeline. Filmemacher trennen ja nichts, sondern verbinden Bilder. Selbst die Trennung ist Ausdruck einer Verbindung, so als würde die Welt, die zwischen den Bildern liegt, in einer Art Narkose unwiderruflich gelöscht werden. Wie durch ein Wurmloch gelangt ein Bild zu dem anderen, die vorher Lichtjahre voneinander entfernt waren.

Schnalzen, Schnippen, Ploppen & Klopfen

Aber die Montage geschieht nicht geräuschlos. Ich kann mir nur schwer vorstellen, einen Film stumm zu schneiden. Ich habe das Gefühl, dass der Ton Zeit und Raum in einem Bild öffnet. Ganz abgesehen davon, ist der Originalton in dokumentarischen Aufnahmen häufig nicht verwendbar, sei es der Wind, der ins Mikro bläst oder die Bedienungsgeräusche an der Kamera, die stören. Oft hat der O-Ton nur einen tautologischen Aussagewert und normalisiert die Bilder. Wir sehen eine Welle, wir hören eine Welle. Erst im Schnitt und mit dem Ton wird nach und nach die wesentliche Handschrift des Filmemachers erzeugt.

Ich hatte mir für Sonnenland vorgenommen, viele Sounds selbst aufzunehmen. Mit Field Recording oder direkt generiert, besonders die, die ich mit Finger und Mund erzeugen konnte. Ich wollte einen Human Nature Touch im Sounddesign. Selten passiert etwas im O-Ton, was die Bilder in eine andere gewünschte Dimension transportiert. Im Flugzeug hören wir vorwiegend das Triebwerk, aber nicht den Wind, der uns in dieser Höhe ungeschützt um die Ohren pfeifen würde. Die Welt ist nicht schön, schön ist sie nur, wenn ich sie montiere. So fing ich an und es blieb und wurde zum gedanklichen Zentrum im real existierenden Film „Sonnenland Nr. 62“.

Aber ist das der Nullpunkt, von dem aus ich messen kann? Vielleicht war es der Flug im Dezember 2019 auf die Insel Gran Canaria. Oder war es doch der Antrag auf Fördermittel im April 2020 für Postproduktion? Anträge auf Filmförderung sind ihrer Natur nach Versprechen, die man nur schwer einhalten kann. Ich zitiere aus dem Antrag: „Aber vielleicht tun die Bilder am Ende das, was ich mir von ihnen erhoffe, nämlich etwas abbilden, dass sie nicht abbilden können. Das ist das Experiment. Der schlimmste oder schönste Gedanke könnte dann mit dem Bild einer Palme (in einer Oase) auf ewig verbunden sein. Traurige und fröhliche Tropen. Wir verweilen in einem transitorischen Raum.“ Ein unmögliches Ziel, aber einmal formuliert wird es zur „Yellow Brick Road“, die mich zum Zauberer von OZ bringt, der ich selber bin. Tatsächlich befinden wir uns zum Ende von „Sonnenland Nr. 62“ auf einer Scholle aus Sand mit einer Palme, die im offenen Meer treibt.

Die große Weltflucht ist nicht möglich. Oder gibt es hinter dem trostlosen doch eine Zukunft? Könnte das der Grund sein, warum ein Film für mich nicht wirklich zu beenden ist. Als ich das DCP von Sonnenland in einem Kino testete, sagte ein Bekannter zu mir, dass ihn der Film an 8½ von Fellini erinnerte. Der Regisseur Fellini befand sich damals in einer persönlichen Schaffenskrise. In Sonnenland sage ich: „Wenn ich einen Film schneide, denke ich oft, dieser Film könnte immer so weitergehen. Er wird nie wirklich fertig werden.“ Wenn Film unendlich ist, wie das Universum an sich, dann ist die Schaffenskrise nicht ein Problem, sondern maximal ein temporäres Ereignis. Im Film werden wir unendlich. Das ist kein Problem, sondern ein Zustand, den wir so lange wie möglich aufrechterhalten wollen.

Film(en) in Deutschland

Den tatsächlichen Anfang in der finalen Schnittversion von Sonnenland macht Steffen C. Jürgens, den ich 2021 in Berlin auf dem Helmholtzplatz getroffen habe. Steffen ist Schauspieler. Auf meinem Smartphone stauten sich über viele Monate diverse Sprachnachrichten von Steffen. Über Film, über Ästhetik und das leidige Thema der Finanzierung haben wir viel diskutiert. Ich hatte meine Ansichten eingetippt und er hat die seinen eingesprochen, denn er hat die „Voice“, wie er es selber gerne oft betont.

Obwohl ich in der Vergangenheit hin und wieder vor die Kamera trat, haderte ich stets mit Aufnahmen, auf denen ich entweder zu hören oder zu sehen war. Gerade persönliche Texte mit meiner Stimme nötigen mir viel mehr Überwindung ab als z.B. Nacktheit. Ich bin ein großer Freund des Indirekten, und will den Zuschauer so wenig wie möglich auf eine Botschaft lenken. Es würde zu diesem Missverständnis führen, dass ich etwas sagen will, dass andere verstehen sollen oder wollen. Steffen hingegen haut die Dinge ohne Anlauf und Distanz raus. Schon immer hatte er ein Faible für den Klang von Eigennamen, besonders im Bereich Fussball, wie z.B. Leroy Sané oder Serge Gnabry. Er intonierte sie und kriegte sich nicht mehr vor Freude ein. Da kam mir das erste Mal die Idee, dass ich diese ganzen Nachrichten archivieren sollte, bevor sie im elektronischen Nirwana verschwinden.

Rummelplatz der Regisseure

Eines Tages kam dann eine Nachricht, in der Steffen Regisseure, wie ein Marktschreier aufzählt. Darauf hatte ich instinktiv nur gewartet. Es waren ohne Ausnahme männliche Regisseure. Daran könnte sich jetzt der aktuelle Zeitgeist entzünden, aber am Ende ist Authentizität wichtiger und besser zum Diskutieren geeignet, als ein Image, mit dem wir gendergerecht erscheinen wollen. Es ist wunderbar, wie die Namen der Regisseure von Steffen ausgerufen werden, ganz im Stile eines Anheizers, eines Rekommandeurs in einem Fahrgeschäft. Dazu sehen wir Bilder von einem Rummelplatz und einem Riesenrad, die uns an die Anfänge des Films als Jahrmarktsattraktion erinnern.

Das war mir dann doch wichtiger als meine eigenen Einlassungen zum Thema Filmförderung, die ich komplett aus dem Film gestrichen habe. Da wäre z.B. ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gewesen, das 2014 eine Klage abwies. Eine deutsche Kinokette wollte kein Geld mehr an die FFA entrichten, da ihr gerade die deutschen Filme zu wenig Geld an der Kasse einspielten. Das Bundesverfassungsgericht kam zu der Erkenntnis, dass eine „erfolgreiche Filmförderung nur möglich sei, wenn auch die Herstellung von erfolglosen Filmen gefördert wird.“ Ich füge hinzu: Da es keine objektiven Förderkriterien gibt, würde eine Verlosung der Förderzusagen ausreichen und wäre unter Garantie turbulenter, bunter und kontroverser als die jetzige Praxis, mit der behaupteten Jury-Kompetenz. Unsägliche Filme, wie z.B. die Machwerke aus der Kaderschmiede der Hamburger Media School wären dann reiner Zufall, und nicht Teil einer politischen Agenda, die wirklich „nicht käufliche“ Filme erfolgreich verhindert. Etwas, dass man nicht kontrollieren kann, kann man mit guten Gewissen dem Zufall überlassen.

Unvollständige Bilderwelten

Sehr früh in „Sonnenland Nr. 62“ werden touristische Erwartungen gedämpft. Lässt der Anflug auf die Insel noch Urlaub und schöne Bilder erwarten, kommt nach der Landung der Umschnitt auf eine tote Robbe. Diese erzählerische Miniatur, mit Hilfe von Compositing, hat es mir ermöglicht, einen Trockenkanal auf Maspalomas mit den Wellen aus St. Peter-Ording zu füllen. Eine angemessene Seebestattung für die tote Robbe.

Virtuell sind alle Filmbilder, auch die, die unseren Alltag konkret abbilden. Bereits ein Buch zum lesen ist ein immersives Erlebnis. Noch mehr: Jede Kadrierung, die ein Motiv anschneidet, lässt uns ahnen, dass das Bild dort kein Ende hat. Die Kadrierung ist ein ästhetischer Akt der Kastration. Lustvoll und unvollständig. Was die Bilder tatsächlich beherbergen, wird erst dann sichtbar, wenn man sie gezielt manipuliert oder durch einen Schwenk freigibt. Nichts ist so, wie es scheint, heißt nicht, dass es sich in Wirklichkeit anders verhält. Die Wirklichkeit steckt immer in allem, wie die Zukunft in der Vergangenheit steckt.

Ein Videotagebuch ist nicht ein Videotagebuch

Wer ein Saatkorn in der Hand hält, kann einen Baum erkennen, wenn er weitsichtig ist. Bei einem Videotagebuch denken die meisten an eine authentische Wiedergabe des Alltags, mit maximal poetischen Betrachtungen, die in Form eines Textes aus dem Off kommen. Diese Konvention findet man vereinzelt auch in Sonnenland, als eine Art Echo und Zugeständnis. Ich suche eher nach Kohärenzen zwischen den ganzen Aufnahmen. In der Summe fiktionalisiere ich den Alltag, um an Wirklichkeiten zu gelangen. So verhält es sich auch in der Hip-Hop-Jumper-Szene mit den jugendlichen Fahrgästen, wenn aus dem Off ein Junge über seine Familie erzählt – dass er nichts dafür kann, dass er reich und adelig ist. Aus dem, was an der Oberfläche naiv und unbeholfen klingt, lässt sich die Zukunft ablesen, und ist Maske und Demaskierung in einem. Mit kindlicher Naivität wird hier Ungleichheit zementiert. Das ist keine Assoziation, weder Metapher, noch eine Allegorie. In dieser Szene sehen wir ein Karussell als Hamsterrad, in dem unbeschwerten Jugendliche Spaß haben, die ihre Zukunft noch nicht sehen. Es ist eine unangenehme Information für uns, wir schauen auf unsere eigene Kindheit zurück.

Read, Read, Read – Nee, Nee, Nee

Im ersten Drittel hören wir die Stimme von Werner Herzog. Ursprünglich wollte ich ein eigenes kleines Video darüber machen, dass es von ihm gab. Ich wollte ihn nachstellen und persiflieren, entschied mich dann aber doch, es in das Videotagebuch einfließen zu lassen. 13 x hintereinander sagt Herzog „READ“ und schließt mit dem Satz ab: „If you don’t read, you will never be a filmmaker.“ Mir war schon klar, wie er das meinte. Es war eine Übertreibung, die sich schon praktisch widerlegen ließe. Natürlich wird beim Lesen die visuelle Vorstellungskraft befeuert. Er sagte diesen Satz im Rahmen einer Masterclass: „Wenn Sie das Geschichtenerzählen beherrschen wollen, sollten Sie nicht nur Filme sehen … ich sehe Filmstudenten an sehr angesehenen Filmschulen, und niemand von ihnen liest. Sie lesen einfach nicht.“ Der Herzog, ein Gott, sieht eben alles.

Aber ganz ehrlich – wer kein Geld hat, ist doch noch mehr gekniffen. „If you don’t dream, you will never be a filmmaker.“ Herzog wird schon wissen, wie ich das meine. Der Mensch braucht nichts oder alles, um Filme zu machen. Beides stimmt. Die Stimme von Joseph Beuys ist zu hören, mit seiner berühmten Litanei aus dem Jahr 1968 „Nee, Nee, Nee.“ In diesem Mantra wird aus dem „Ja“ ein „Nein“ oder umgekehrt. Ein typischer Effekt, der mit der Trägheit des Geistes arbeitet. Beuys hat seine Hör-Performance als „Imitation eines Oma-Gesprächs“ bezeichnet. Dieses Mantra verleiht selbst Schicksalsschlägen eine gewisse Heiterkeit, wie ich im Schnitt herausfand.

Scheiss Scheiße! – Mehr geht nicht!

Das vorweggenommene Endbild war für mich die oben genannte Oase. Alles, was sich negativ in zwei Worten benennen ließ und mit meinem Leben zu tun hatte, hatte ich ins Mikrophon gesprochen. „Scheiss Corona“ war der größte gemeinsame Nenner, der mich mit dem Rest der Welt verbindet. „Scheiss Alter, Scheiss Tod“ schafften es nicht in die Endversion, weil das schon durch „Scheiss Zukunft“ abgedeckt war. Kurzum: Scheiss Scheiße! Hätte ich den Film später angefangen zu schneiden, wäre dann „Scheiss Krieg“ dazugekommen? Ich habe als Deutscher in Deutschland nie Krieg erfahren, es wurde mir immer nur darüber berichtet. Mit Terrorismus hatte ich auch nie eine direkte Erfahrung gemacht. Es traf ja immer andere. In meinem dritten Videotagebuch „Nice Movie“, sieht man, wie ich eine Glastür öffne und auf die „Promenade des Anglais“ in Nizza zusteuere. Das war 2007 – es war für mich ein Weg zum Strand, ins kühle Nass, ein Glück. 2016 fuhr genau dort ein LKW auf die Fußgängerzone. Der Fahrer tötete in Namen des IS 86 Menschen und verletzte 400 weitere schwer. Nun hatte ein Wurmloch diese zwei Bilder unheilvoll miteinander verbunden und alles dazwischen gelöscht. Ich war wütend. Ich spüre förmlich, wie Beuys den Kopf schüttelt, wenn ich mich über die ganze Scheiße beschwere – Nee, Nee, Nee, Nee, Nee!

Spiel mit Bildern und Worten

Die wiederkehrenden Aufnahmen mit den VR-Brillen stammen aus meinem Archiv und gaben mir die Möglichkeit mit Sprache und Bild zu spielen. Bilder, die der Vorstellung des Zuschauers durch Sprache entspringen und eine Montage, die das Wort als Bild einlöst. Ich konnte so eine Wette abschließen, was der Zuschauer sich in Bildern vorstellt und wann ich mit konkreten, gegenläufigen Bildern diesen Prozess der Vorstellung unterlaufe. Flugzeuge zerstören die Twin Towers, aber am Ende sehen wir einen amerikanischen TV-Prediger, der die Corona-Pandemie mit einem Exorzismus besiegen will. Die heilige Inquisition ruft auf. 9/11 und Corona sind traumatische Schnittstellen. Zwei Ereignisse, die die Welt auf Jahrzehnte geopolitisch verändert haben und unsere demokratischen Systeme erodieren lassen und die Menschen mit in die Tiefe nehmen. Noch können wir nicht wissen, ob der Krieg in der Ukraine ein drittes weltweites Trauma ähnlichen Ausmaßes erzeugt.

Manchmal bleiben unsere Vorstellungen eben Vorstellungen, und manchmal werden sie wahr, filmisch zumindest, willentlich. In der Neurobiologe forscht man zum Thema Wahrnehmung. Wenn wir in einem Raum stehen, rufen wir diesen zu fast 99 Prozent aus dem Gedächtnis ab. „Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind“ so steht es schon im Talmud. Das erinnerte mich an den Physiker Ludwig Boltzmann und seiner Idee vom Boltzmann-Gehirn und an meine Kindheit. Schon als Kind spielte ich oft mit dem Gedanken, was wohl wäre, wenn ich mir die ganze Welt, so wie ich sehe, nur ausgedacht habe. Boltzmann hat es mathematisch berechnet. Ich fahre durch das „Reservat Inagua“ auf dem Highway GC-200 auf Gran Canaria, das menschenleer scheint und mit Serpentinen durchzogen ist, die kein Ende erkennen lassen. Aber genau für diese unendliche Ödnis von Zeit und Raum hat Boltzmann Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen ausgerechnet. Als ich auf einen Esel traf, kehrte ich um. Ewigkeit gibt es nur für den Moment.

Das medizinische Abbild des Menschen

Die älteste Aufnahme ist eine CT meiner Beine von 2011. Ewig lag die CD mit den Bildern in der Schublade. Wenn möglich, hebe ich alle medizinischen Aufnahmen auf. Zeigen sie doch alles, was sonst unter der vertrauten Haut liegt. Trotzdem ist ihre Abstraktion das hervorstechende Merkmal. Es braucht den geübten Blick des Arztes, um unser Inneres zu verstehen. Wir sind durchschaubar geworden, ohne dass unsere Intimität scheinbar verloren geht. Allerdings hat die Hirnforschung große Fortschritte erreicht und kann in groben Ansätzen nun doch schon erkennen, was wir denken. Diese Intimität werden wir wohl verlieren. Oder werden wir lernen müssen, im Hirn eine Firewall zu errichten?

Missgeschicke – Outtakes

Exakt in der Mitte von „Sonnenland Nr. 62“ befindet sich das wohl trockenste Motiv, dass ich je aufgenommen habe. So trocken, dass es sich schon durch das pure Anschauen entzünden könnte. „Denkst Du nicht daran, es kann morgen sein und die Welt fängt zu brennen an.“ Es ist eine weitere Textzeile von Gilbert Bécaud aus dem Stück „Es ist nie zu spät“. Glas zerbricht, auf CT-Aufnahmen sehen wir Knochenbeine. Alles ist fragil. Kurz drauf folgt das feuchteste Motiv – ein Detail von einem Gradierwerk. Wasser durchwandert das Geäst und im Hintergrund taucht ein Mann auf, der sich duscht. Es ist Material aus einem anderen Projekt, dass ich nie verwendet habe. In einem kompletten Ganzkörperanzug ließ ich mir Wasser über den Kopf gießen. Ich hielt die Luft an, aber als ich wieder zu atmen anfing, zog ich den nassen Stoff in die Nasenlöcher und erlebte eine milde Form von Waterboarding. Meine Bewegungen wurden panisch, weil ich den Schieber vom Reißverschluss nicht fand. Ein Bild von Folter und Autoerotik entsteht. Es war unangenehm und sah gut aus. Nichts ist so, wie es scheint.

Musik im Traum – Musik im Film

Die Aufnahme vom dem „Hip-Hop-Jumper“ auf dem Rummelplatz hatte ich im Video-Archiv seinerzeit schon rot markiert, da die Rotation des Fahrgeschäfts die Bewegungen der jugendlichen Gäste schwerelos erschienen ließen. Ein Bild, dass für sich allein schon spannend anzuschauen war. Sei es die tote Robbe, dass Corona Drive-in oder das Provinz-Kino. Keines dieser Bilder ist vorsätzlich entstanden, um später Teil einer gewollten Erzählung zu werden. Sie sind primär um ihrer selbst willen entstanden und verbleiben im Archiv bis sie ihren Platz in einem meiner Film finden. Dort werden sie dann auf ewig verbaut. Die Verbindungen zwischen diesen Bildern können derartig stabil werden, dass sie für mich tragfähiger und belastbarer sind, als Bilder in einer fiktionalen Erzählung.

Ähnliches gilt auch für Audio-Aufnahmen. Ich hatte eine Zeitlang einen wiederkehrenden und intensiven Traum. Ich hörte eine Musik, von überall her. Sie war sehr lieblich und perkussive Elemente umgarnten den Gesang. Die Musik durchdrang alles und füllte den ganzen Himmel. Es war das Intro zum Song “Berketex Bride“ der Band CRASS. 30 Jahre später schickte mir meine Tochter Fanny eine Gesangsaufnahme, aufgenommen auf ihrem Smartphone, mit einem ihrer Lieblingsstücke von Bruno Mars. Das Original rührte mich wenig, ich fand es belanglos. Aber Fannys unbedingter Wille, das Stück mit totaler Hingabe zu singen, verlieh dem Titel die nötige Größe. Es klang schön und gewaltig, wie die Musik in meinem Traum. In „Sonnenland Nr. 62“ haben die Radarschirme der ESA auf dem Montaña Blanca Fannys Gesang aus dem All eingefangen, aus dem kosmischen Lärm herausgefiltert und hörbar verstärkt. Außerirdisch und überirdisch leitet ihr Gesang die Sequenz von Wüstenbildern ein, die das letzte Drittel des Films bilden.

Ich bin Naturfilmer

Während ich in den Dünen von Maspalomas filmte, schlich sich von der Seite ein männlicher, nackter Tourist mit Rucksack an. Ich ließ die Kamera laufen, da ich die Aufnahme nicht unterbrechen wollte. Wir führten das Gespräch auf englisch und rudimentär. Er fragte mich, was ich da täte. Es ist bemerkenswert, mit welchem Selbstverständnis nackte Menschen den öffentlichen als ihren privaten Raum verhandeln, um ihre Sphäre zu verteidigen. „Ich bin Naturfilmer“, war meine Antwort. Und so begann ich zu erzählen, dass ich Filmemacher bin und Videotagebücher herstelle. Ich sprach mit ihm auch über das, was ich gerade aufnahm. Einige Teile des Dialogs habe ich dann verwendet und ausgebaut, angefangen mit dem „They are naked in public space“ bis zu „Looks like paradise“. Männer standen nackt oder bekleidet in großen Abständen zueinander auf Anhöhen. Es erinnerte mich an Tierdokumentationen, wo Männchen auf der Suche nach Weibchen sind. An einem anderen Tag konnte ich einen jungen Mann in den Dünen beobachten, der auf einer dieser Anhöhen tanzte, im Gebüsch verschwand und wieder zurückkehrte und tanzte, als wenn er in der Ferne ein Publikum vermutete. Ich bin Naturfilmer.

I’m the peacock in your townThe best you can get 50 miles around

Warum nicht, wie in dem Sci-Fi-Film „Dune“ einen Bumper einsetzen, der mit seinem tiefen Klopfen Sandwürmer, oder wie in meinem Fall, nackte Menschen anlockt. Ich verfremdete meine Stimme und klang wie ein alienhaftes Wesen. Es entstand eine dritte Stimme im Film, die surreal und mächtig wirkte. Wem sie gehören könnte, lässt Platz für Interpretationen. Ein Es, ein Über-Ich, ein sprechendes Tier, ein Besucher aus dem All? Ich konnte meine Erzählstimme konterkarieren und es entstand eine neue Dimension.

Schon während ich auf Gran Canaria war, kam mir die Idee, in meinem Hotelzimmer auf der Terrasse, eine kleine Szene zu inszenieren. Von Sonnenland aus hatte ich einen Panoramablick unten auf die Dünen von Maspalomas. Mit einem eigenen Nacktauftritt ergänzte ich die Wüstensequenz. Als ich den Flaschenöffner in Form eines Penis an den Sonnenschirm hängte, schien es so, als wenn dieser sich im Meer ergießen würde und es füllte. So reagieren Bilder aufeinander, eins führt zum anderen. Ich bin auf Montage.
Am Ende gibt es für mich einen Kern im Film, das Auge in einem Taifun – das stille Zentrum. Es ist das Bild von einem weißen Schimmel, einem altgedienten Zirkus-Pferd. In ihm erkenne ich mich wieder. Da ist alles von mir drin, in einem Bild.

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